Man kann es im Rückblick klar sagen: Die Corona-Krise 2020 mit harten gesellschaftlichen Einschränkungen und zahlreichen individuellen Opfern hatte auch ihr Gutes.
Die Pan-Demie – also das „ganze Volk“ betreffend – lässt sich nur global verstehen, gefährliche Viren kennen keine Grenzen, keine einzelnen Völker, Städte, Dörfer. Die Pandemie ist Ausdruck der weltweiten Globalisierung mit millionenfachen Vernetzungen und Lieferketten. Die ökonomischen und sozialen Verwerfungen treffen vor allem die Entwicklungs- und Schwellenländer mit Millionen Toten. Neue ethisch-moralische Verpflichtungen stellen sich unabweisbar vor allem für die führenden Industrienationen.
Covid-19 und das mediale Kreisen um die unabsehbaren Auswirkungen hatte selbst die noch weitaus existenziellere Klimakrise in der Aufmerksamkeit der Menschen vorläufig ins Abseits gedrängt. Ein neuer Aberglaube an die „große Heilung“ durch Wissenschaft und Technologie – die politischen Medizinmänner und der neue Impfstoff – breitete sich virusartig aus. Auf Dauer weiter so wie bisher – Augen zu und durch – allerdings mit Mundnasen-Maske und 2 Meter Sicherheitsabstand? Das war bis Herbst 2020 in viele Köpfe, alltägliche Gewohnheiten und Beschwörungsformeln eingebrannt. Dennoch: Anzeichen von Gegenbewegungen formierten sich. Sollte die tiefgreifende Krise zeitgleich nicht auch als internationale und regionale Chance zur positiven Veränderung von alten verkrusteten Fehlentwicklungen grundsätzlicher bedacht werden?
Ab Mitte März 2020 war auch in Sipplingen alles dicht: Gemeindeverwaltung, Schule, Kindergarten, Kirche, Hafen, Restaurants. Das bunte gesellige Vereinsleben wurde abrupt per staatlicher Verordnung beendet. Lediglich als begrenzte Versorgung mit dem Nötigsten funktionierten zum Wohle der Bevölkerung Bäcker, Metzger, Landmarkt, Arztpraxis und Postlädele. Angst, Verunsicherung und Verwirrung in vielen Sipplinger Gesichtern, ständig mit Blick auf den bundesweit alarmierenden Corona-Ticker und die neuesten Zahlen der Infizierten und Toten im Bodenseekreis.
Noch am 01. April verkündete das Blättle aus der Online-Gemeinderatssitzung: Die Turn- und Festhalle werde abgerissen und ab Frühjahr 2021 eine neue „Seeblickhalle Sipplingen“ gebaut. Das „Kulturwerk am See“ – kontroverse Gemeindediskussion 2017/2018 – ließ freundlich grüßen. Am 08. April bedurfte es im nächsten Blättle wiederum der Klarstellung als „Aprilscherz“; zu viele Bürger waren irritiert über die angebliche Online-Sitzung.
Die Gemeindeverwaltung selbst war sich offensichtlich zum damaligen Zeitpunkt ihres visionären Weitblicks noch nicht im Ansatz bewusst.
Nach der Stufe 1 – Angst und Verunsicherung – folgte auch in Sipplingen die Stufe 2 – innere Besinnung und solidarisches Handeln. Neue Möglichkeiten der zu gestaltenden Zukunft wurden klarer gesehen als je zuvor: Was bedeutet innere Freiheit? Um was geht es mir in meinem Leben, brauche ich die ganze Hektik und das Hamsterrad des Fremdbestimmten?
Und die am Gemeinwohl orientierte Freiheit des solidarischen Handelns – was wollen wir im Dorf produktiv erreichen? Aus dem Kriseneffekt zum zukünftigen Gestalten. Radikal neu denken, Grenzen überschreiten – wie geht das?
Wie Berlin in kürzester Zeit mehr als 1000 Milliarden Euro in den Marktkreislauf einspeiste und effizientes schnelles Verwaltungshandeln zeigte, so war auch in Sipplingen ab dem Winter 2020 hohe transparente Produktivität zu verzeichnen. Alles Kleingeistige wurde innerhalb von Monaten abgestreift, die Gerüchteküchen und wechselseitigen Fehlerbezichtigungen weitgehend eingestellt. Sipplingen erwachte im besten Sinne: überall zunehmende geistige Flexibilität, authentische Diskussionsbereitschaft, Tatendrang, soziale und kulturelle Initiativen. 2021 und 2022 sind sozusagen die Geburtsjahre eines neuen Sipplinger Geistes der Offenheit und der praktischen Gestaltung von Zukunftsprojekten. Die politischen, kulturellen und sozialen Früchte konnten ab Sommer 2022 und im Verlauf des Jahres 2023 gleich mehrfach gepflückt werden:
Das „Kulturwerk am See“
seit 2017 im Gespräch – wurde nach intensiven Beratungen 2021 politisch beschlossen und tatsächlich zwischen Hafengebäude und DLRG-Haus im Juni 2023 realisiert. Ohne das Engagement zahlreicher Bürgerinnen und Bürger in der Kulturgenossenschaft wäre das sicher nicht möglich geworden. Die Gemeinde stellte das Gelände auf Erbpachtbasis zur Verfügung. Größere kulturelle Veranstaltungen werden im Vorfeld mit dem Riva, dem Kronegarten und dem Seehaus abgestimmt. Der neue Geist setzt auch bei den Gastronomen auf Kooperation und überregional gemeinsames Marketing. Der engagierte Bürgerdialog mit kulturellem und sozialem Engagement hat endlich einen festen Platz am See.Attraktiv Wohnen im Alter
Eine Win-Win-Situation für Jung und Alt. Eine Mehrgenerationen-Initiative hatte sich Ende 2020 gegründet und eine vielfältige Bandbreite von neuen Wohnmöglichkeiten in Sipplingen erarbeitet. Auf dem Gemeindeland oberhalb des Friedhofs entstehen derzeit für 25 Personen attraktive Wohnungen auf Erbpachtbasis. Noch im Dezember 2023 wird eingezogen. Die Bürgerselbsthilfe erhält im Gebäude ihren festen Tagungsraum.
8 größere Privathäuser im Osten Sipplingens werden aufgestockt und in Mehrgenerationenhäuser umgewandelt. Da Bauland nur sehr begrenzt vorhanden ist, beschloss der Gemeinderat im Dezember 2021 die wegweisende wohnpolitische Direktive: „Sipplingen plus 1“, also 1 Stockwerk bzw. 1 Dachaufstockung pro Gebäude mehr, soweit es der Eigentümer wünscht.
Auch die Hohfelser-Baugebiets-Diskussion wird seit September 2022 behutsam erneut aufgegriffen. Diesmal sollte der Planungsprozess nicht an privater Profitgier oder teils ungeschicktem Verwaltungshandeln scheitern. Wechselseitige Schuldzuschreibungen wie in der Vergangenheit konnten alle Beteiligten erfolgreich hinten sich lassen. 2O24 soll endgültig entschieden werden, wohin die Reise geht.Blühender Tourismus
Neben dem Kulturwerk am See ist der Landgasthof Sternen am alten Standort neu erblüht. Ebenso erfreut sich der Kronegarten neuer Beliebtheit. Die Musikkapelle Sipplingen spielen im Wechsel mit befreundeten Musikkapellen aus der Region in den Sommermonaten alle 14 Tage zum sonntäglichen Frühschoppen auf.
Der Tourismusverein mit seiner Serie ‚lake unplugged‘ ist inzwischen überregional bekannt und organisiert auch Benefizveranstaltungen für Corona-Opfer in Afrika und Indien.
Der neu eröffnete Fahrradladen „Radschlag“ ist bei Einheimischen und Touristen gleicher maßen nachgefragt. Die Inhaberin engagiert sich in Kooperation mit anderen Gewerbetreibenden zusätzlich für die Flüchtlingsfamilien im Dorf.
Yoga, Qi-Gong, Meditation, geführtes Wandern, Boule und Beachvolleyball sind von April bis Oktober im Dorf nicht mehr wegzudenken. Im Mai 2021 wurde endlich das zweite Volleyballfeld am See fertiggestellt.DenkerInnen-Club Sipplingen
Zwölf Sipplinger Bürgerinnen und Bürger, zwischen 18 und 80 Jahren alt, hatten im Juni 2021 den DenkerInnen-Club gegründet. Es gilt das offene authentische Wort. Es gilt die Kraft des guten Arguments mit triftigen Gründen. Die Clubabende sind offen für alle, auch für die ursprünglich fremden Ludwigshafener und Überlinger. „Der Fremde bist du selbst“ heißt eine Veranstaltung. Die Themenliste ist lang: Von antiken Lebensweisheiten bis zur radikalen Ökologie im 21. Jahrhundert. Ist unser Planet noch zu retten? Was bedeutet Gemeinwohl-Ökonomie? Das Ego und seine Begierde – zwischen Lebenslust und Lebensfrust. Auswege aus der Egofalle.Engagierte Jugend
Die DLRG-Jugend veranstaltet in den Sommermonaten alle 14 Tagen am Wochenende eine Live-Veranstaltung am See mit Musik & Tanz, alternativ ein Open-Air-Kino in Kooperation mit dem Kulturwerk. Der Bürgermeister und die Geschäftsführerin des Kulturwerks unterstützen die jungen Leute mit unbürokratischem Engagement – ein neues solidarisches Miteinander. Geplant wird für 2024 eine kleine „Sommer-Universität Sipplingen“ mit vielfältigen handwerklichen, politischen, ökologischen und kulturellen Angeboten.
So paradox es klingen mag: Die Corona-Pandemie, mit tiefen Leid verbunden, hat uns allen die Augen und Herzen geöffnet. Auf ein erfülltes und solidarisches Leben kommt es an. Sipplingen ist auf einem guten Weg.
Hmm, die Kommentarkultur in Sipplingen ist noch etwas suboptimal.
Deshalb für die, die lieber erst Musik und einen anderen Text hören mögen …Erinnerung an John Lennon, Imagine – John Lennon & The Plastic Ono Band, 1972 – damals ihrer Zeit meilenweit voraus
https://www.youtube.com/watch?v=YkgkThdzX-8&list=PL2VpLYjpRpK84cAcK7GvSzZreBi0r20RO
Hallo Michael Miller, vielen Dank für diese optimistische Vision. Hier und da machen sich Einwohnerinnen und Einwohner auf den Weg, doch es ist noch viel Nebel….. Das Kulturwerk am See ist sicherlich realistischer als manch andere Idee. – Vielleicht sollte dies nochmal angemacht, angesprochen und auf den Weg gebracht werden durch z.B. ein Bürgerbegehren?
Heute zum ersten Mal diese Seite entdeckt!